Auch in Japan gibt es das Motiv des „Doppelten Lottchens“: Chiëko wird als Baby ausgesetzt und von dem Ehepaar Sata adoptiert, das in Kyoto eine erfolgreiche Stoffhandlung betreibt. Ohne materielle Sorgen und mit liebevollen Eltern wächst Chiëko auf, doch trotzdem lässt sie das Rätsel um ihre Herkunft nicht los – bis sie auf einem Fest plötzlich ihre Zwillingsschwester trifft.
Doch die beiden Mädchen trennen Welten: während Chiëko der oberen Schicht angehört, ist Naëko eine einfache Arbeiterin, die in einem Dorf in den Bergen von Kyoto wohnt. Chiëko erzählt deshalb zunächst keinem von ihrer Schwester, sodass einer ihrer Verehrer die beiden Mädchen kurzerhand verwechselt und sich in die mitellose Naëko verliebt.
Chiëko möchte Naëko zu sich holen. Da Naëko keine weiteren lebenden Verwandten mehr hat, haben die Satas damit kein Problem. Doch Naëko möchte ihrer Schwester nicht zur Last fallen und keinesfalls schlechtes Gerede über die Satasprovozieren. Sie ist bereit für äußerliche gesellschaftliche Konventionen, ihr persönliches Glück zu opfern.
Auch wenn sich die Romanhandlung in der Zusammenfassung spannend anhört, macht sie doch nur den halben Teil des Romans aus. Den anderen Teil nehmen Kawabatas ästhetische Schilderungen des alten Kyoto und seiner Natur und Feste ein. Die verschiedenen Jahreszeiten und ihre jeweiligen Pflanzen nehmen einen bedeutenden Platz ein – und sind sogleich symbolischer Hintergrund für die Geschichte: sie symbolisieren Chiëkos Gefühle während der Romanhandlung, von der Unbeschwertheit im Frühling, wo der Roman beginnt, bis hin zur Trauer im Winter. So spiegelt sich das Leben der Protagonisten in der Natur und andersherum.
Was den Roman so wertvoll macht, sind nicht nur die Naturschilderungen, sondern Kawabatas Beschreibungen der einzelnen Feste, die Chiëko im Laufe der Jahreszeiten besucht, zum Beispiel die Kirschblütenschau, das Malvenfest oder das Gion-Fest. Gerade deshalb wird der Roman vor allem für Japaninteressierte sehr praktisch sein. Allerdings ist auch das seine Schwachstelle: die Handlung ist eigentlich nur das Mittel, um Kyoto zu beschreiben und ist somit sehr spannungsarm.
Wie so oft bei Kawabata – aber besonders bei diesem Werk – ist das Lesen also mehr ein ästhetisch-geistiger als trivial-unterhaltender Genuss.
Fazit
Ein entspannter Spaziergang durch das traditionelle Kyoto, seine Jahreszeiten und Feste. Kulturreich, aber handlungsarm.Verfasst am 23. Mai 2010 von Friederike Krempin
Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 18. August 2019