Die namenlose Erzählerin lebt auf einer Insel, auf der nach und nach willkürlich Dinge verschwinden. Als auch die Fähre verschwindet, ist die Insel isoliert, doch das Leben auf der Insel geht weiter.
Neben der Fähre, die nicht unbedeutend für die Infrastruktur der Insel ist, verschwinden zunächst Dinge, auf die man auf den ersten Blick verzichten kann: Smaragdsteine, ein Haarband, Parfum und Rosen.
Jedes Mal, wenn eine Sache verschwindet, macht sich die Erinnerungspolizei daran, alles, was mit den Gegenständen in Verbindung gebracht werden kann, zu beseitigen. Wer verschwundene Gegenstände versteckt, kann verhaftet werden und spurlos verschwinden. Ein Dorn im Auge sind der Erinnerungspolizei insbesondere die Menschen, die sich weiterhin an verschwundene Dinge erinnern können. Forscher suchen deshalb nach einer Methode, diese Menschen genetisch zu identifizieren.
Die namenlose Erzählerin gehört zu den Menschen, die sich aus eigener Kraft nicht mehr an die verschwundenen Gegenstände erinnern können. Paradoxerweise arbeitet sie zugleich als Autorin und ist damit eine der wenigen Personen auf der Insel, die etwas mit Wörtern erschaffen, während zugleich andere Dinge verschwinden.
Ihr zur Seite steht ihr Lektor, der zu den Menschen gehört, die sich an alles erinnern können. Als die Erinnerungspolizei immer rigider vorgeht, muss sie ihn in einer kleinen Kammer in ihrem Haus verstecken.
Die Insel der verlorenen Erinnerung hat auf den ersten Blick eine ruhige, verträume Atmosphäre, wie wir sie auch aus anderen Romanen von Yoko Ogawa kennen: Die Insel sowie ihre Bewohner sind namenlos, es gibt keine Karte der Insel und die Figuren leben ein ruhiges, zurückgezogenes Leben. Auf den zweiten Blick jedoch beschreibt Ogawa eine dystopische Gesellschaft, die langsam auf ihren Untergang zusteuert.
Das Verschwinden von Dingen wird immer beängstigender, denn mit der Zeit verschwinden auch bedeutende Dinge wie Kalender (damit verharrt die Insel im ewigen Winterschlaf) sowie Bücher (worauf eine Bücherverbrennung folgt).
Den Menschen auf der Insel bleibt nur der Rückzug ins Private. Metaphorisch dafür steht die kleine Kammer, in der die namenlose Erzählerin den Lektor und schließlich auch sich selbst versteckt. Doch sich zu verstecken hilft ihnen nicht, die Geschehnisse aufzuhalten.
Yoko Ogawa macht mit ihrem Roman deutlich, wie wichtig es ist, sich zu erinnern. Denn in dem Moment, in dem die Erinnerung verschwindet, verschwinden alle Dinge zum zweiten Mal, und dieses Mal für immer. „Wehret den Anfängen“ gilt auch hier: auch wenn es scheinbar unbedeutende Dinge sind, die zunächst verschwinden, führt die Ohnmacht der Inselbewohner schließlich zu einem vollkommenen Verlust ihrer Identität.
Die Insel der verlorenen Erinnerung wurde in Japan bereits vor 30 Jahren, im Jahr 1994, veröffentlicht. Der Roman ist aber trotz seines Alters aktueller denn je.
Fazit
Eine bedrückende Dystopie über eine Welt, in der Stück für Stück alles verschwindet.Verfasst am 28. Dezember 2024 von Friederike Krempin