Murakami ist inzwischen in Deutschland zum Kultautor avanciert. Keines seiner Werke wurde bisher so intensiv (vor allem online) beworben, kein Buch war bisher so aufwendig gestaltet und wurde so teuer verkauft. Aber ist 1Q84 nun Murakamis „Opus Magnum“, wie der Verlag selbst wirbt oder eher nur aufgewärmter Stoff aus früheren Tagen?
„Q-zehnhundertvierundachtzig“ – der Titel spielt auf Orwells berühmte Dystopie „1984“ an, bei der ein „Großer Bruder“ als symbolische Verkörperung eines totalitären Überwachungsstaates über seine Untertanen wacht. In Murakamis Welt gibt es keinen totalitären Überwachungsstaat und auch keinen Großen Bruder, dafür aber die „Little People“, kleine, unbestimmbare Wesen, die einen unerkannt großen Einfluss auf die Menschenwelt ausüben und sie nach ihren Interessen beeinflussen.
In dieser Welt, die eigentlich unserer realen Welt bis auf die Tatsache, dass zwei Monde am Himmel stehen, ziemlich gleicht, leben die Auftragsmörderin Aomame und der angehende Schriftsteller Tengo. Der Aufbau erinnert dabei an Murakamis letzten großen Roman Kafka am Strand: abwechselnd werden die Geschichten der zwei Protagonisten erzählt. Abwechselnd, aber nicht losgelöst voneinander, denn beide verbindet seit einer Begegnung in der Kindheit eine innige Liebe zum anderen.
Nun schlagen sie sich aber beide allein durchs Leben und stoßen über jeweils ganz verschiedene Wege auf das Geheimnis der „Little People“ und einer religiösen Sekte in den Bergen, die mit den „Litte People“ in Verbindung zu stehen scheint.
Je mehr ich von Murakami gelesen habe, desto schwerer wird es, seine Bücher zu beurteilen. Viele Elemente sind einfach schon bekannt und weniger überraschend, können mich also dementsprechend nicht mehr so stark begeistern. Auch bei 1Q84 gibt es einiges, was Murakami-Fans bekannt vorkommen sollte: die magisch-realistischen Momente, unerklärbare Geschehnisse, das Ineinanderfließen von Realität und Fiktion. Auch Tengos unklare Familiensituation erinnert stark an Kafka Tamura, der ebenfalls nicht weiß, wer seine Mutter ist.
Aber es gibt auch viel Neues: die Erzählstimmung ist insgesamt irgendwie kühler und sachlicher, weniger abgeklärt und verträumt. Dies mag auch daran liegen, dass die Protagonisten nicht mehr in ihrer eigenen kleinen Welt vor sich hindümpeln, sondern mit der Realität konfrontiert sind. Die Erzählung entfaltet sich ganz langsam und unscheinbar. Nach und nach kommen neue Informationen hinzu, aus denen ich sofort – und das macht das Lesen des Romans gerade so spannend – Hypothesen zum Zusammenhang der Figuren, 1Q84 und den „Little People“ aufgestellt habe.
Die Geschichte von 1Q84 ist umfangreich, wird aber nie unübersichtlich. Oft werden nämlich Informationen wiederholt oder aus anderen Perspektiven geschildert, sodass man stets den Überblick behält. Die 1022 Seiten lesen sich erstaunlich schnell und unkompliziert, auch wenn sie mich nicht so in den Bann ziehen konnten wie Hard-Boiled Wonderland und Wilde Schafsjagd – vielleicht aber auch, weil ich inzwischen einfach „Murakami-immun“ bin.
Dafür hat 1Q84 aber einen anderen Effekt auf mich: es wirkt nach. Es regt mich zum Nachdenken über die vielen verschiedenen Themen und Aspekte an, die es enthält. Und so freue ich mich schon auf den 3. Band, den Dumont für 2011 angekündigt hat – leider gibt es nämlich nach den 1022 Seiten immer noch keine komplette Auflösung, wer die „Little People“ sind.
Fazit
Komplexe Story, aber doch leicht verständlich. Für sich genommen ist 1Q84 ein beeindruckend, er reicht aber nicht an ältere Romane Murakamis heran.Verfasst am 22. Oktober 2010 von Friederike Krempin
Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 22. August 2019