In Japan als Trilogie erschienen, ist Mister Aufziehvogel gleich nach 1Q84 Murakamis umfangreichster Roman. Der Roman wird sehr kontrovers bewertet: Für die einen ist er der ideale Schmöker, der ins Murakami-Universum entführt, den anderen ist die Handlung zu zäh und langatmig.
Ich stelle mir vor, ich sitze in einem tiefen, ausgetrockneten Brunnen. Die Leiter, mit der ich hineingeklettert bin, ist gerade heraufgezogen worden, aber ich weiß nicht von wem. Niemand weiß, dass ich hier unten, in der tiefen Dunkelheit sitze. Und niemand wird nach mir suchen. Was ist das für ein Gefühl? Auf jeden Fall bin ich an einem Tiefpunkt angelangt.
Dieses Brunnenmotiv zieht sich durch den Roman hindurch: Toru Okada steckt, nachdem er seinen Job gekündigt hat, in einer Lebenskrise. Schließlich verschwindet auch noch seine Frau. Auf den fast 800 Seiten beschreibt Murakami eine Lebenskrise und wie man sie überwindet: Nämlich, indem man, wenn man nichts ausrichten kann, abwartet und sich auch einmal bewusst auf den tiefen Grund eines Brunnens begibt.
Gerade deshalb scheint die Handlung auch nur zähflüssig zu fließen: Toru handelt nicht aktiv, sondern alles passiert ihm. Dazu tauchen ständig seltsame, außerhalb der Gesellschaft stehende Figuren auf, die ihm ihre noch seltsameren Lebensgeschichte erzählen. Die ausgedehnteste Geschichte ist die des Kriegsveterans Mamiya, die über fast 50 Seiten geht, womit die Haupthandlung stark aus dem Blickfeld gerät.
Die Bedingungen für einen guten Murakami-Roman sind erfüllt: Der Hauptdarsteller selbst steht außerhalb gesellschaftlicher Verpflichtungen und kann sich auf andere skurrile Personen einlassen: Die Wahrsagerin Kreta Kano, die bunte Vinylhüte trägt, dem Leutnant Mamiya, der tagelang selbst in einem Brunnen in der mongolischen Steppe saß, einem Veterinärarzt in China, der ein blaues Mal auf der Wange trägt, einem Jungen, der seit der Kindheit nicht mehr spricht, und vielen weiteren Personen. Still und heimlich dringt eine andere Wirklichkeit in sein geruhsames Leben ein – und schließlich überschreitet Toru sogar die Grenze in eine andere Realität – ein typisches Murakami-Motiv.
Während Murakami nicht an Erzählung gespart hat, hat das der Verlag dafür bei der Übersetzung: Mister Aufziehvogel wurde aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Ich kenne die Originalausgabe nicht, könnte mir aber gut vorstellen, dass sprachliche Ungeschliffenheiten wie „Stimmen [brachten] die Papierbespannung der Schiebetür zum knattern“ (64) aus der Übersetzung herrühren. Eine Neuübersetzung würde dem Buch gut tun.
Mister Aufziehvogel ist ein besondere Romantrilogie, weil sie sich Zeit lässt: Zeit sowohl beim Erzählen als auch beim Lösen von Problemen. Dieser langsame, ruhige Lösungsansatz erinnert ein wenig an Yoshimoto, bei der sich die Figuren auch oft einfach dem Lauf der Zeit überlassen.
Die Trilogie vermittelt eine beruhigende Botschaft: „Lehn dich zurück und genieße dieses umfangreiche Werk, lass dir vielleicht auch ein wenig Zeit für deine Probleme, es kommt schon wieder alles ins Lot.“ Dies tröstet ein wenig, auch wenn wir natürlich nicht wie Toru in eine andere Wirklichkeit überwechseln können.
Fazit
Für diese Romantrilogie braucht man viel Geduld und Muße. Die Geschichte ist Murakami-typisch faszinierend, die Übersetzung leider sprachlich umständlich und fehlerhaft.Verfasst am 31. Juli 2011 von Friederike Krempin
Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 17. August 2019