In Der Nasse Tod widmet sich Ôe einem Thema, das ihn noch nach Jahrzehnten beschäftigt: Den Tod seines Vaters im Alter von nur 50 Jahren bei einem Hochwasser im Jahr 1945.
Bis heute ist nicht ganz klar, was an jenem Abend passierte, als das Hochwasser kam: Warum stieg der Vater mit einem roten Koffer in ein Boot? Wollte er fliehen oder wusste er von Anfang an, dass er in den Fluten sterben würde? Die offenen Fragen bewegen Ôe wohl nicht nur persönlich, sondern eignen sich darüberhinaus natürlich auch als Stoff für einen spannenden Roman.
Doch wer nun einen Roman über die Geschehnisse im Jahr 1945 erwartet, wird enttäuscht. Wie bereits aus Romanen wie Stille Tage bekannt, lässt Ôe sein Alter-Ego – hier Kogii genannt – als Romanautor auftreten und erzählt aus dessen Perspektive, ähnlich wie in einem persönlichen Bericht, wie dieser den Roman in Angriff nimmt. Kogii reist dazu in die Wälder Shikokus, wo sein Vater ums Leben kam und wo seine Schwester bis heute wohnt. Sie ist im Besitz eben jenes roten Koffers, den ihr Vater damals mit in die Fluten nahm. Kogii erhofft sich von diesem Koffer ausschlaggebende Zeitzeugnisse, auf Grundlage derer er seinen Roman entwerfen kann.
Auch wenn der Roman in gewisser Weise fiktiv ist, webt Ôe wie auch aus anderen Werken bekannt viele persönliche Fakten ein und lässt Freunde und Familienmitglieder auftreten, sodass nicht klar ist, was Fakt und was Fiktion ist. Dieser scheinbar intime Einblick in das Seelenleben von Ôe selbst ist Kennzeichen vieler seiner späteren Romane. Der Roman über den Tod seines Vaters tritt so scheinbar zurück hinter den Bericht von Kogii darüber, wie er versucht den Roman zu schreiben:
„Der Roman handelt von einem Schriftsteller, der eine Geschichte in der ersten Person aufzuschreiben beginnt, später von einer tiefen Strömung emporgetrieben, hinabgezogen und am Ende von einem Strudel verschluckt wird.“ (Zitat aus: Kenzaburô Ôe, Der Nasse Tod, S. 14)
„Ich dachte, das Ich, das den Roman verfasst und zugleich dessen Protagonist ist, auch wenn Sie sagen, dass das unmöglich sei, könnte einen Helden in der dritten Person schaffen.“ (Zitat aus: Kenzaburô Ôe, Der Nasse Tod, S. 333)
Gerade das zweite Zitat zeigt, wie eng Ôe die Leser in die scheinbare Arbeit an seinem eigenen Roman einbezieht und quasi über die Schulter schauen lässt. Aus dem Roman wird somit aus einem Roman über den Tod seines Vaters ein Roman über einen Autor, der einen Roman über den Tod seines Vaters schreiben möchte.
Darüberhinaus werden im Roman weitere Themen auf einer Metaebene verhandelt: Ein Gruppe an Schauspielern, die Der Tag, an dem er selbst aufführen möchte, bietet Anlass für Kogii, mit diesen über sein Buch zu diskutieren. Der Tag, an dem erst selbst ist dabei inhaltlich dem Nassen Tod nahe, da es ebenfalls – jedoch auf einer viel fiktiveren Ebene – die Rolle von Ôes Vater verarbeitet.
Daneben nehmen auch die Theaterstücke, die die Gruppe aufführt, einen großen Raum im Roman ein. An diesen Stellen habe ich, um ehrlich zu sein, teilweise einfach umgeblättert. Auch wenn dies der Komposition des Romans insgesamt und den reichhaltigen Anspielen, die Ôe macht, vielleicht nicht gerecht wird, sind dies gerade die Passagen, die die Leser, die Ôe bisher nicht kennen, davon abhalten könnten, diesen Roman tatsächlich durchzulesen.
Abgesehen davon ist die Entwicklung im Roman weiterhin spannend: Kogiis Arbeiten am Roman kommen nicht voran, wie er es sich vorstellt, ihn holen gesundheitliche Probleme ein und zudem verschlechtert sich sein Verhältnis zu seinem Sohn Akari (Hinweis: Bei dieser Person handelt es sich um ein Alter Ego seines behinderten Sohnes Hikari, der eine wichtige Rolle in den meisten seiner Romane spielt.) Kogii merkt mit seinen 74 Jahren, dass er an seine Grenzen kommt und dass zugleich seine Zeit, die er noch zur Verfügung hat, begrenzt ist. Was davon der tatsächliche Ôe fühlt und was die Kunstfigur, muss offen bleiben, jedoch ist es zutreffend, den Roman sowohl fiktional – wie es Kogii tut – als auch tatsächlich zu Ôes Spätwerk zu zählen.
Was für Stile Tage gilt, gilt auch für Der Nasse Tod: Wer das Familienleben und die Charaktere der fiktiven und zugleich doch realen Familie Ôe bereits kennt, wird mit diesem Roman wieder in ihre Welt eintauchen können. Wer bisher allerdings nichts von Kenzaburo Ôe gelesen hat, könnte durch die vielen Diskussionen um Theater und Literatur abgeschreckt werden. Hier würde ich zum Einstieg einen Roman wie Reißt die Knospen ab empfehlen, der linearer eine Geschichte erzählt, für die kein Hintergrundwissen über Ôes bisheriges Werk notwendig ist.
Fazit
Ein beeindrucken Roman aus dem Spätwerk Ôes, der sich einem schwierigen Thema - dem Tod des eigenen Vaters - aus einer ganz besonderen Perspektive annähert.Verfasst am 19. Juli 2019 von Friederike Krempin
Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 5. Januar 2025