Leichter Schwindel, das ist Mieko Kanai zufolge das Gefühl, das Hausfrauen befällt, die zu lange – oder sogar ihr ganzes Leben lang – in ihrem Hausfrauendasein gefangen sind: Sie kommen ins Grübeln über sich und ihr Leben, aber „nicht so herausragend, nicht so einschneidend, dass er [der Schwindel] bis in die Tiefen ihrer Existenz oder ihrer Seele vordringt, sondern ein Moment ist, in dem sie das Gefühl für sich selbst oder die eigenen Erinnerungen als etwas Frisches oder Neues“ empfinden (Zitat aus: Mieko Kanai, Leichter Schwindel, S. 174).
So fängt die erste der lose miteinander verbundenen, anekdotischen Erzählungen aus dem Leben der Hausfrau Natsumi auch mit einem leichten Schwindel an, indem die Autorin über fast drei Seiten Halbsatz an Halbsatz, Gedanke an Gedanke und Assoziation an Assoziation reiht, bis der Satz auf der vierten Seite endet. Vom Zuschnitt der Wohnung über die Einrichtung der Räume bis zum Sportgerät Super Gym DX, das Natsumi gern entsorgen würde, schildert sie ihren kleinen Hausfrauen-Kosmos.
Diese Erzählweise ist an einigen Stellen herausfordernd und erhält ihre Krönung an der Stelle, als Natsumi über mehr als eine Seite das Fisch- und Fleischangebot ihres Supermarktes aufzählt. Auch die letzte Erzählung endet mit einer Aufzählung, in der Natsumi im Kopf auflistet, was sie noch für Vorräte hat und was sie für das Abendessen einkaufen muss.
Der leichte Schwindel überkommt Natsumi augenscheinlich über dieses Grübeln über alltägliche Pflichten, obwohl es auch andere Dinge geben könnte, die sie durchaus zum Grübeln bringen könnten: Immer wieder hört sie von Paaren, deren Ehe scheitert. Sie selbst bemerkt die Distanz zu ihrem Mann, etwa wenn sie sich vor seinem Badewasser ekelt oder seine Wäsche getrennt von ihrer wäscht. Zudem fällt es Natsumi schwer, ihre wenig freie Zeit, die sie für sich hat, sinnvoll zu gestalten.
Trotz leichter Zweifel, die unter der Oberfläche schwelen, geht Natsumis Hausfrauendasein beständig weiter. Der Rahmen ihres Lebens ist gesetzt und wird nicht in Frage gestellt.
Der Roman basiert auf einzelnen Erzählungen, die teilweise als Serie bereits im Jahr 1968 in einer Zeitschrift erschienen sind. Sie hängen somit lose zusammen, bilden aber in dem Sinne keinen klassischen Spannungsbogen eines Romans. Natsumis Hausfrauendasein spielt sich in einzelnen Episoden ab und endet weder in einer Katastrophe noch in einem Eklat, in keiner Scheidung und auch in keinem Streit. Dies wäre aber auch, so äußert sich die Autorin im Nachwort, nicht ihre Absicht. Sie will das Alltägliche, Unspektakuläre erzählen, Schicksale, die sie so selbst in Tokyo beobachtet hat.
Leichter Schwindel wurde in Japan bereits im Jahr 1997 veröffentlicht. Wer neben Mieko Kanais Roman weitere Bücher zum selben Thema lesen möchte, dem empfehle ich als „Gegenstück“ beziehungsweise zum Perspektivenwechsel mit Räume des Lichts von Yuko Tsushima die Erzählungen über eine alleinerziehende Mutter im Japan der 1970er.
Fazit
Ein erzählerisch anspruchsvoller, zeitloser Roman über den Lebensentwurf eines Hausfrauendaseins.Verfasst am 10. Februar 2025 von Friederike Krempin