Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte



Leer, traurig und so verdammt einsam. Mit Ich nannte ihn Krawatte wagt sich die österreichische Schriftstellerin Milena Michiko Flasar, die selbst japanische Wurzeln hat, in ein schwieriges Territorium japanischer Gesellschaft vor.

Hikikomori, das ist in Japan ein eigener Begriff für junge Menschen, die sich vollkommen von ihrer Außenwelt isolieren. Der Leistungsdruck und der Zwang, mit der Gesellschaft konform zu gehen, sind oft die Ursache dafür, dass diese Jugendlichen sich vollkommen aus dem gesellschaftlichen Leben ausklinken.

Hiro ist so ein Jugendlicher, der sich die letzten zwei Jahre in seinem Zimmer aufgehalten hat. Seit er die Schule verlassen hat, verschließt er sich jeglichen sozialen Kontakten. Seine Eltern schweigen aus Scham und erzählen ihren Nachbarn, ihr Sohn sei im Ausland.

Doch eines Tages wagt Hiro sich aus seinem Zimmer. Diesen erstaunlichen Schritt muss Flasar ihn gehen lassen, denn sonst könnte sie ihre Geschichte ja gar nicht erzählen. Denn im Stadtpark trifft Hiro auf der Bank einen Salaryman, einen typischen japanischen Angestellten, dem es ähnlich geht. Zwar hat der Salaryman eine Frau und ist glücklich verheiratet, seit er seinen Job verloren hat, steht er aber ebenfalls außerhalb der Gesellschaft. Aus Scham, seiner Frau die Wahrheit zu gestehen, kommt er jeden Tag in den Stadtpark und hält sich dort auf.

Die beiden Außenseiter freunden sich so langsam an und erzählen sich ihre Lebensgeschichte. Bis dahin ist der Roman eigentlich recht grau und gesichtslos. Ein Hikikomori und ein Salaryman, mehr weiß man zunächst nicht über sie. Es könnte irgendein Junge sein und irgendein Mann. Erst ihre persönlichen Geschichten machen den Roman etwas spannender und öffnen ein kleines Fenster in die Welt der beiden.

Überhaupt ist dieser Roman sehr still und zurückhaltend. Die wörtliche Rede ist in den Fließtext eingewoben, als würden die Figuren gar nicht reden, sondern denken. Die kurzen Kapitel, die oft nur eine Seite einnehmen, sind wie kleine Ausschnitte, von denen jeder für sich genommen ein zartes, fragiles Textgebilde ist. Trotzdem harmonieren die einzelnen Ausschnitte miteinander, bilden einen konsistenten Text.

Die fast schon meditative Ruhe im Roman, die dadurch entsteht, dass die beiden Figuren fern abgerückt der Welt zu stehen scheinen, macht seine Qualität aus. Zugegeben, ein klein wenig erinnert Flasars Art zu erzählen an Hiromi Kawakami oder Yôko Ogawa.

Doch hinter der zarten, ästhetischen Fassade verbirgt sich eine tieftraurige Geschichte über verpasste Chancen, über den Augenblick, wenn Menschen dem gesellschaftlichen Druck nicht mehr standhalten können. Wer den Roman genau liest, erkennt hier auch Kritik an einer gnadenlosen Leistungsgesellschaft:

Wir sind unfrei, wir alle. Bloß dass uns das nicht aus der Verantwortung nimmt. Dass wir trotz unserer Unfreiheit beständig Entscheidungen treffen, für deren Folgen wir haften müssen. Und dass wir mit jeder Entscheidung, die wir treffen, noch unfreier werden. (85)

Kein Wunder, dass Hiro in dieser Gesellschaft nicht erwachsen werden will und sich in sein Zimmer einschließt.

Fazit

Eine traurige und einsame Geschichte über verpasste Chancen und diejenigen Menschen, die dem Leistungsdruck der japanischen Gesellschaft nicht standhalten.

Verfasst am 5. April 2012 von
Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 22. August 2019

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