Mit 71 Jahren begann Haruki Murakami, der in Deutschland inzwischen wohl zu den bekanntesten und meistgelesenen japanischen Autoren gehört, diesen Roman zu schreiben. Drei Jahre benötigte er dafür. Entstanden ist ein 650 Seiten starker Roman über Raum, Zeit, die Grenzen des menschlichen Geistes und die Tragik der ersten großen Liebe.
Die Stadt und ihre gewisse Mauer beruht auf einer gleichnamigen Kurzgeschichte, die Murakami vor rund 40 Jahren, zu Beginn seiner Schriftstellerkarriere, verfasste. Wie er im Nachwort selbst erläutert, war er mit dieser Geschichte aber nie besonders zufrieden und musste sie deshalb neu schreiben. Dass dabei ein so umfangreicher Roman entstehen würde, hatte auch er anfangs nicht erwartet.
Murakamis Romane sind bekannt dafür, dass sie mehrere Realitäten miteinander verknüpfen, ihre Protagonisten zwischen unterschiedlichen Welten hin- und herwandern können. Die Stadt und ihre gewisse Mauer beginnt unmittelbar in einer Parallelwelt. Der namenlose Erzähler ist in eine von einer Mauer umgebene Stadt gezogen, in der die Menschen keinen Schatten haben und die Zeit still steht. Er kann nun endlich mit dem Mädchen zusammen sein, in das er sich mit siebzehn Jahren unsterblich verliebt hat. Doch der Preis dafür ist hoch: Das Mädchen erkennt ihn nicht mehr und zeigt kaum eine Gefühlsregung. Beide arbeiten Tag für Tag gemeinsame in der Bibliothek der Stadt, ohne dass sie sich näherkommen.
Obwohl die Schatten normalerweise sterben, schafft es der Schatten des Erzählers zu fliehen und in die „reale“ Welt zurückzukehren. Er findet einen Job in einer kleinen Privatbücherei in der Präfektur Fukushima. Hier begegnen ihm Menschen, die auf ihre Weise ebenso wie er eine besondere Verbindung zur Stadt mit der ungewissen Mauer zu haben scheinen.
Als Murakami-Leser wird man sicher viele Motive wiedererkennen, reflektieren und deuten. Streckenweise schien mir deshalb der Roman sehr vertraut. Eine so starke Loslösung von der Realität, einen so deutlichen Diskurs darum, was Wirklichkeit ist, wie sie erkennbar ist und wo die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung und Existenz liegen, habe ich allerdings noch in keinem seiner bisherigen Romane erlebt. Berücksichtigt man zudem, dass Murakami eine alte Kurzgeschichte aus den Anfangsjahren aufgreift, scheint der Roman fast wie eine Art „Alterswerk“. Antworten auf die aufgeworfenen Fragen gibt Murakami jedoch nicht, nur Ansätze, über die Fragen weiter nachzudenken.
Als Leser, der zum ersten Mal einen Roman von Murakami liest, stelle ich mir den Einstieg eher schwierig vor. Die Erzählweise ist äußerst ruhig und auch die Geschichte kommt langsam und gemächlich voran. Vor allem auf den ersten 100 Seiten hatte ich beim Lesen das Gefühl, es müsste doch bald mehr passieren – bis ich mich dann auf das Erzähltempo eingelassen hatten.
Murakami gestaltet seinen Roman mit wenigen Protagonisten in einem ruhigen, fast menschenleeren Setting. Trotz dieser ruhigen Stimmung ist Die Stadt und ihre gewisse Mauer aber keineswegs emotionslos. Die Liebe zu dem jungen Mädchen treibt den Erzähler immer weiter an:
„Wer einmal wirklich geliebt hat, dessen Herz ist gleichsam ausgebrannt wie ein alter Brennstab. Vor allem, wenn ihm diese Liebe […] entrissen wurde. Eine solche Liebe ist für den Betroffenen das größte Glück und der tragischste Fluch zugleich.“
(Haruki Murakami. Die Stadt und ihre Ungewisse Mauer, S. 376)
Aber nicht nur der namenlose Erzähler, auch die anderen Protagonisten haben alle mehr oder weniger einen geliebten Menschen verloren. Darum, wie man diesen Verlust verkraftet, geht es vor allem auch in diesem Roman.
Fazit
Murakami lotet in diesem Roman in bekannter und bewährter Weise die Grenzen zwischen unterschiedlichen Wirklichkeiten aus.Verfasst am 12. Januar 2024 von Friederike Krempin
Tags: erste Liebe, Haruki Murakami, Parallelwelt, Surreales