Der Tag, an dem er selbst mir die Tränen abgewischt

Der Tag, an dem er selbst mir die Tränen abgewischt



みずから我が涙をぬぐいたまう日

Am Tag der Kapitulation Japans macht sich ein Mann mit einigen desertierten Soldaten auf den Weg, einen tödlichen Anschlag auf den Tennô zu verüben: Durch den Tod des Tennô soll so seine Göttlichkeit wiederhergestellt werden. Der Mann nimmt seinen 10-jährigen Sohn mit, der ansehen muss, wie der Vater in einem Kampf von Kugeln durchsiebt wird.

25 Jahre später findet sich dieser Junge, der in seiner Kindheit noch weitere Traumata erlebt hat, in der neurologischen Abteilung einer Klinik wieder. Er trägt eine Taucherbrille, die ihn von der Umgebung abschirmt und ist der festen Ansicht, er leide – genau wie sein Vater zur Zeit des Anschlages – an einer unheilbaren Krebserkrankung im Endstadium. Deshalb diktiert er einer Frau – aufgrund ihrer analytischen und konstruktiven Äußerungen vielleicht eine Pflegerin oder Psychologin – seine Lebensgeschichte.

Er berichtet in der dritten Person über seine Kindheit, die geprägt ist von einer gestörten Bindung zu seinen Eltern, die im Dorf eine Außenseiterrolle einnehmen: Die Mutter, deren Vater sich 1910 an einem Komplott gegen den Tennô beteiligt hatte, isoliert sich nach dem Tod ihres ältesten Sohnes vollkommen von den übrigen Dorfbewohnern. Der Vater, mit dem die Mutter nach dem Tod ihres Sohnes kein Wort mehr redet, ist aus unbekannten Gründen eher aus dem Krieg zurückgekehrt, verschanzt sich in seinem Speicher und hört den ganzen Tag den Hörfunk ab.

Der Junge versucht, dem Vater alle Wünsche zu erfüllen, um dessen Aufmerksamkeit und Anerkennung zu bekommen und begleitet so seinen Vater zum „Attentat“. Dieser ist durch seinen Blasenkrebs im Endstadium aber so geschwächt, dass er, permanent blutend und stinkende Körpersäfte ausstoßend, mit einem selbstgebauten Karren transportiert werden muss. Gerade in diese Schlüsselszene des Romans zeigt sich exemplarisch Ôes Technik der grotesken Übersteigerung und direkten Schilderung auch ekelerregender Bilder.

Die besondere Struktur des Romans macht gerade den Einstieg sehr mühsam: Der Junge, der nun als 35-jähriger Erzähler auftritt, berichtet von sich in der dritten Person mit dem Ziel, die „Geschichte einer Zeitgenossenschaft“ wiederzugeben. Seine erzählenden Textpassagen sind abgegrenzt von kursiv gedruckten Teilen, in denen der Erzähler mit Menschen in seiner Anstaltsumwelt spricht. Aus diesen Gesprächen kann können sich die Leser stückweise Informationen erschließen, zum Beispiel, dass die Krebserkrankung nur eingebildet ist.

Insgesamt entsteht ein sehr düsteres, die Abgründe des Menschlichen ausleuchtendes Bild. Der Erzähler kann sich von seinen traumatischen Erlebnissen als Junge nicht mehr befreien und selbst nicht unterscheiden, welche Teile er real erlebt hat und welche nicht. Eine Lösung oder – in der christlichen Metaphorik des Romans gesprochen – Erlösung gibt es nicht.

Durch seinen anspruchsvollen formalen und inhaltlichen Aufbau und die düstere Thematik wird dieser Roman nicht für jeden zugänglich sein und so werden Ansichten dazu, wie lesenswert dieser Roman ist, wohl ganz unterschiedlich ausfallen.

Fazit

Ansichten eines Geisteskranken: Ein Mann berichtet über seine traumatischen Erlebnisse mit seinem Vater gegen Ende des Zweiten Weltkriegs.

Verfasst am 1. Mai 2010 von
Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 5. Januar 2025

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