Manchmal schlägt die Praxis der Veröffentlichung von Verlagen seltsame Kapriolen: Der erst 2008 im japanischen Original veröffentlichte Band kanojo ni tsuite – 彼女について – liegt schon seit 2012 auf Deutsch als „Ihre Nacht“ vor, während der bereits 2005 geschriebene Roman mizuumi – みずうみ – erst im März 2014 unter dem Titel „Der See“ veröffentlicht wurde.
Yoshimoto Banana repräsentiert ähnlich wie Murakami Haruki japanische Populärkultur weltweit. Ihre Werke sind mittlerweile in rund 30 Sprachen übersetzt, zwölf davon auch ins Deutsche. Sie versteht es, ein jugendliches Lebensgefühl in einer globalisierten Welt zu beschreiben, das nicht auf Japan und die japanische Gesellschaft begrenzt ist. Ihr Thema ist auch nicht Kritik an Japan oder an der japanischen Gesellschaft, letztlich überhaupt keine Kritik an Lebensumständen, sondern das Sich-Einrichten in und Sich-Abfinden mit Rahmenbedingungen, die man als Einzelwesen nicht verändern zu können glaubt. Veränderungen in den Seinsumständen ihrer Personen werden nicht selten durch übernatürliche oder übersinnliche Kräfte bewirkt. Dadurch wohnt ihren Werken stets etwas Märchenhaftes inne; es gibt Anleihen bei Science Fiction und sanften Horror.
Wie so oft bei Banana Yoshimoto geht es auch in „Der See“ um die Bewältigung von Sinnkrisen, Traumata und den Umgang junger Erwachsener miteinander. Die beiden Hauptpersonen heißen Chihiro und Nakajima. Sie, eine lebenslustige, der Welt zugewandte Kunststudentin, die mit ersten Aufträgen den väterlichen Unterhalt aufbessert; er, ein zurückgezogen lebender Weltflüchtling, der mit großem Ehrgeiz hochgesteckte berufliche Ziele verfolgt. Größer könnten die Gegensätze kaum sein. Beiden gemeinsam ist der Verlust ihrer Mütter. Während Chihiro, die Tochter eines reichen Geschäftsmannes und seiner Geliebten, über den Tod ihrer Mutter und die Geschichte ihrer Familie locker plaudernd berichten kann, ringt Nakajima, der Nachbar von schräg gegenüber, um jedes Wort. Er hat den Verlust bisher nicht verarbeiten können und sich in einer freudlosen Welt aus Fleiß, Strebsamkeit und Strenge eingerichtet. Chihiro versteht dieses Lebensmodell zwar nicht so ganz, fühlt sich aber davon und von Nakajimas direkter unverstellter Art merkwürdig angezogen. Der titelgebende See schließlich ist der Ort, an dem Nakajima mit Chihiros Hilfe eine Art Erlösung erfährt. An dieser Stelle tritt Übersinnliches in die Handlung ein. Am Ufer des Sees lebt ein altes, kleinwüchsiges Geschwisterpaar, Chii und Mino, das seherische Fähigkeiten hat und von seinen Weissagungen aus Vergangenheit und Zukunft einen bescheidenen Lebensunterhalt bestreitet. Chihiro und Nakajima erfasst ein reinigender Schauder, und sie gehen gestärkt aus dieser Begegnung hervor. Das gemeinsame Erleben stärkt zugleich auch ihr Zusammengehörigkeitsgefühl, das höchst empfindlich auf Spannungen reagiert und deshalb stets sorgfältig austariert werden muss.
Fazit
Für Yoshimoto-Fans ein Muss, für eine Erstbegegnung mit Yoshimotos Werk gibt es Passenderes.Verfasst am 17. September 2014 von Thomas
Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 26. August 2019