Hiroyuki hat Selbstmord begangen und lässt seine Partnerin Ryoko mit vielen offenen Fragen zurück. Ryoko begibt sich daraufhin auf eine – teils sogar fantastische – Reise in seine Vergangenheit, die sie bis nach Prag führt.
Yoko Ogawas Romane sind unaufgeregt und leise. Auch der Ton, in dem vom Selbstmord des hochbegabten Hiroyuki erzählt wird, ist weder aufgeregt noch dramatisierend. Da Ryoko weder einen Abschiedsbrief noch eine Erklärung für Hiroyukis Tod hat, macht sie sich auf die Reise zu dessen Familie. Sie begegnet einem Bruder, der verblüffende Ähnlichkeit mit Hiroyuki hat und seine demente Mutter betreut, die täglich die vielen Pokale poliert, die Hiroyuki bei Mathematikbewerben gewonnen hat.
Ryoko ist erstaunt, denn sie kennt zwar Hiroyukis Talent als Parfümeur und beim Kreiern von Düften, jedoch nicht seine mathematischen Fähigkeiten. Um dieses andere Leben von Hiroyuki kennenzulernen, begibt sie sich nach Prag, wo ein Mathematikbewerb eine scheinbar einschneidende Wende für Hiroyukis künftigen Lebensweg mit sich brachte.
War der Roman bis zu diesem Punkt in seiner Erzählweise nicht nur unaufgeregt, sondern auch recht nüchtern, verschwimmen in Prag die Grenzen zwischen Realität und Imagination. Dies beginnt schon damit, dass Ryoko trotz aller Vorbereitungen vor Ort keinen japanischsprachigen Reiseführer erhält und in einer Welt der Gesten gefangen bleibt. Doch nach kurzer Eingewöhnung beschließt sie, sich dieser Welt der mangelnden Verständigung durch Worte anzupassen:
„Es wäre doch absurd, meine Beschwerde in einer Sprache zu formulieren, die niemand verstand.“ (Zitat aus: Yoko Ogawa, Der Duft von Eis, Seite 66)
Wer von Haruki Murakami Romane wie Wilde Schafsjagd oder Kafka am Strand gelesen hat, kennt bereits Geschichten, in denen sich Protagonisten auf die Suche nach einer Person machen, sich dabei unbemerkt von der Wirklichkeit entfernen und in einer teilweise skurrilen, teilweise fantastischen Welt landen. Was Der Duft von Eis so besonders macht, ist die fantastische Welt, die Ryoko in Prag zeitweise betritt. Auch wenn Ryoko Hiroyukis Vergangenheit nicht einfangen kann, hält der Roman für sie doch eine tröstliche Botschaft bereit:
„Die Vergangenheit ist unzerstörbar. Genauso wie Entscheidungen nicht rückgängig gemacht werden können, lässt sie sich nicht beliebig manipulieren. Jede Erinnerung wird bewahrt. Sogar über den Tod hinaus…“ (Zitat aus: Yoko Ogawa, Der Duft von Eis, Seite 226)
So bleibt am Ende das Gefühl, dass mit dem Tod nicht alles verloren ist. Aber auch die Erkenntnis, dass man sich oft auf eine lange Reise machen muss, um sich mit der Vergangenheit zu versöhnen.
Fazit
Ein teilweise fantastischer, ansonsten ruhiger und unaufgeregter Roman über den Selbstmord eines empfindsamen, hochbegabten Menschen.Verfasst am 3. Oktober 2024 von Friederike Krempin
Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 24. Mai 2025