Nach einer Kurzgeschichtensammlung im Jahr 2022 war es lange Zeit ruhig um die Schriftstellerin und Akutagawa-Preisträgerin, die mit Die Ladenhüterin in Japan einen Bestseller landete.
Nun veröffentlicht der Aufbau-Verlag endlich wieder einen Roman von Sayaka Murata. Ganz so neu ist der Roman aber nicht: Schwindende Welt erschien bereits 2015 und damit ein Jahr vor Die Ladenhüterin in Japan.
In Schwindende Welt erschafft Murata eine düstere Zukunftsvision einer Welt, in der (körperliche) Liebe und Sexualität obsolet werden: Aus dem Erfordernis heraus, das Bevölkerungswachstum konstant zu halten und den Bedarfen entsprechend zu regulieren, wird künstliche Befruchtung zum Normalfall, um Kinder zur Welt zu bringen. Geschlechtsverkehr zwischen Menschen findet nicht mehr statt und wird in der Regel als schmutzig und unanständig angesehen.
Als die Protagonistin Amane erfährt, dass ihre Eltern sie auf normalem Weg gezeugt haben, schämt sie sich und wird von ihren Mitschülern ausgelacht. Amane versucht, sich anzupassen und sich wie ihre Mitschüler in Figuren aus Zeichentrickserien zu verlieben und allein symbolische Beziehungen zu diesen künstlichen Charakteren zu führen. Doch trotz der gesellschaftlichen Konventionen kann sie ihre Neugier nicht zurückhalten und geht bereits in der fünften Klasse ein sexuelles Verhältnis mit einem Mitschüler ein, später folgt ihr Lehrer.
Amanes sexuelle Begegnungen wirken unnatürlich, gefühllos und teilweise sogar ziemlich verstörend. Verstörend ist aber auch die gesamte Gesellschaft, in der sich die Menschen immer mehr entfremden. So ist es zwar üblich zu heiraten, um künstlich ein gemeinsames Kind zu zeugen und sich um dieses zu kümmern, Intimkontakt zwischen Eheleuten wird aber als Inzest angesehen.
So scheitert auch Amanes erste Ehe daran, dass ihr Mann versucht, sie zu küssen. Von diesem „sexuellen Missbrauch“, wie Amane und ihre Umwelt das Verhalten ihres Mannes bezeichnen, muss sich sich zunächst erholen, ehe sie über eine Partnervermittlung einen neuen Mann findet, mit dem sie regelkonform leben kann. Amane ist nun vollständig angekommen in den Moralvorstellungen der Gesellschaft.
Während Sex in der Ehe verpönt ist, ist es zugleich aber noch vollkommen normal, dass die Ehepartner mit Fremden Beziehungen eingehen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen:
„Zu Hause kann ich mich entspannen und die Liebe vergessen.“
„Liebe und sexuelles Verlangen waren nur eine Notdurft, die wir außerhalb des Hauses verrichteten.“
(Zitate aus: Sayaka Murata, Schwindende Welt, E-Book-Ausgabe)
Doch die Moralvorstellungen spitzen sich weiter zu. Am Ende des Romans werden sogar Familien als sittenwidrig angesehen und Kinder vollkommen anonym aufgezogen. Der Roman gipfelt in einer Szene, die für einige unschön oder sogar schockierend sein dürfte.
Murata stellt mit Schwindende Welt die gesellschaftlichen Moralvorstellungen komplett auf den Kopf und provoziert zugleich beim Lesen ein latentes Unwohlsein im Hinblick auf die Ausgestaltung menschlicher Beziehungen, Liebe und Sexualität.
Fazit
Muratas Roman will schockieren und provozieren und ist deshalb kein leichter Lesestoff für zwischendurch.Verfasst am 2. Oktober 2025 von Friederike Krempin




















