Es gibt Geschichten, die verzaubern durch ihre Einfachheit. Sie diskutieren keine großen Themen, beinhalten keine besonderen historischen Ereignisse, sondern ereignen sich scheinbar im Stillen, von der Gesellschaft ungesehen und unbemerkt. Die Wildgans ist so eine dieser Geschichten, von denen es leider viel zu wenige gibt.
Mittelpunkt der Geschichte ist Otama, die die schönste in ihrem Viertel ist und wegen ihrer Schönheit auf den ersten Blick sogar für eine Geisha gehalten wird. Sie lebt zurückgezogen in einem Haus, das auf dem Weg der Studenten der medizinischen Fakultät liegt. Und so fällt dem Medizinstudenten Otama bald eine besonderes hübsche Frau auf, die ihren Kopf vorsichtig hinter der Schiebetür hervorsteckt. Wie verabredet begegnen Okata nun immer ihre Blicke, wenn er am Haus vorbei kommt. Was für eine Frau sie wohl sein mag?
Anfangs wird Otama nur aus der Außenperspektive beschrieben. Dabei ist es noch nicht einmal Okata selbst, der die Geschichte erzählt, sondern sein Mitbewohner, der die Geschichte nach Okatas Beschreibungen nacherzählt. Er fügt die einzelnen Handlungsstränge zusammen und beschreibt, wie Otama zu dieser einsamen, wartenden Frau wurde.
Die beinhaltet einen ganz gewissen Charme, den nur Erzählungen aus dieser Zeit (um 1900) ausstrahlen: Noch gibt es das „alte“ Japan, noch leben die Menschen in einfacheren Verhältnissen und es fehlen die technischen Errungenschaften. Aber erste Veränderungen in der Gesellschaft geschehen. In diesem Schwebezustand zwischen Tradition und Moderne sind auch Mond überm Dachfirst von Ichiyô Higuchi oder Das Grab der wilden Chrysantheme von Sachio Ito verfasst – wem solche Erzählungen gefallen, der sollte unbedingt Die Wildgans lesen!
Fazit
Die Einfachheit und schlichte Eleganz dieser Geschichte würden einige wahrscheinlich als "typisch japanische Ästhetik" beschreiben. Auf jeden Fall aber ist sie ein Lesegenuss!Verfasst am 10. April 2012 von Friederike Krempin
Tags: Dreiecksverhältnis, Liebe, Ogai Mori