Akiro Kido ist eigentlich Scheidungsanwalt, doch im Jahr 2012, nach der Großen Ostjapanischen Erdbebenkatastrophe, wird er von seiner Klientin Rie mit einem ganz besonderen Fall betraut: Nach dem Tod von Ries Ehemann kommt heraus, dass dieser seine Ehefrau jahrelang über seine wahre Identität getäuscht hat.
Der Mann, der unter dem Namen Daisuke Taniguchi lebte, war tatsächlich ein anderer. Unbemerkt konnte dies nur bleiben, da der echte Daisuke Taniguchi die Beziehung zu seiner Familie abgebrochen hatte, nachdem es Streitigkeiten darüber gab, ob er seinem krebskranken Vater ein Stück seiner Leber spenden solle.
Was anfangs für Kido ein einfacher Rechercheauftrag ist, zieht den Anwalt nach und nach auch persönlich in den Bann. Als sogenannte Zainichi stammen seine Vorfahren ursprünglich aus Korea. Auch wenn Kido bereits seit der dritten Generation in Japan lebt, leidet er immer noch unter dem Stigma, dem Personen dieser Gruppe im alltäglichen Leben in Japan ausgesetzt sind.
In diesem Kontext kann Kido es durchaus nachvollziehen, warum eine Person bereit ist, ihre eigenen Identität aufzugeben und unter einem vollkommen fremden Namen zu leben. Doch nicht nur zu einer stigmatisierten Volksgruppe zu gehören, kann ein Grund für einen Identitätstausch bzw. eine Identitätstäuschung sein. Kido recherchiert weitere spannende Ansätze wie etwa den Umstand, dass japanische Staatsbürger nach Nordkorea entführt und in diesem Rahmen ihre Identitäten in Japan durch Spione ersetzt wurden.
Ein rechtlich zudem spannender Ansatz findet sich im japanischen Konstrukt des Familienregisters. So gibt es auch in Japan immer noch Personen, die nie in einem Familienregister registriert waren (beispielsweise infolge der Zerstörung von Unterlagen im Zweiten Weltkrieg) und über keinerlei rechtlicher Identität verfügten. Diese qua Gesetz nicht existenten Personen bereiteten insbesondere nach der Erdbebenkatastrophe 2011 Probleme, da Todesfälle solcher Personen nicht ordnungsgemäß erfasst werden konnten.
Man merkt es schon: Keiichirô Hiranos Roman ist keine ganz einfache Kost. Der Reiz des Romans ist aber gerade seine verschachtelte Erzählweise, bei der der Autor eine Vielzahl von Themen einbindet. Gerade der Anfang des Romans gestaltet sich so besonders spannend, als dass es zunächst um Ries Familiengeschichte geht, dann erst um Daisuke Taniguchi und schließlich um Akira Kido, der als Ermittler nur zusätzlich hinzutritt, so als wäre Rie und nicht Kido die Hauptfigur des Romans.
Ähnlich verschachtelt gestaltet sind auch Kidos Ermittlungen, die zwischenzeitlich etwas abdriften. Auf der Mitte bis ins zweite Drittelt hat der Roman deshalb auch einige Längen bzw. stockt die Ermittlung so, dass dies als Länge wahrgenommen werden kann. Wie Hirano trotz allem die unterschiedlichen Themen in diesem Roman miteinander verknüpft, lässt den Roman aus der Masse herausstechen.
Mit Das Leben eines Anderen erhalten wir nicht nur einen Kriminalroman, sondern auch einen Gesellschaftsroman, denn latent schwingen überall die Auswirkungen des Großen Erdbebens von 2011 mit. Von hier aus zieht Hirano einen Bogen zum Großen Beben in Tokyo von 1923, bei dem wiederum viele Zainichi von aufgebrachten Japanern umgebracht wurden. Hier wiederum schließt sich der Kreis zu Kidos eigener Identität als Zainichi.
Auch über juristischen Zusammenhänge lernt man beim Lesen schließlich einiges, wenn auch der Schwerpunkt nicht so stark darauf ausgerichtet ist wie beispielsweise in Dein falsches Herz.
Fazit
Ein vielschichtiger, auf aktuelle gesellschaftliche Themen bezogener Kriminalroman von einem Autor, von dem ich gerne weitere Romane entdecken würde.Verfasst am 20. August 2023 von Friederike Krempin
Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 26. Februar 2025