Im Japanischen gibt es das Märchen von Urashima Tarô, einem jungen Mann, der einen wundervollen Palast tief im Ozean besucht. Auch in Frühlingsgarten von Tomoka Shibasaki träumt sich ein Tarô weit weg in eine eigene Welt – Gegenstand seiner Begierde ist allerdings ein blaues Haus.
Tarô ist passiv und relativ antriebslos. Schon mit Anfang dreißig steht er vor den Scherben seiner Ehe, geht einer unbedeutenden Arbeit nach und wohnt in einem Appartmenthaus, das bald abgerissen werden soll.
Doch Tarô kümmert sich nicht um seine Zukunft. Er versinkt in Tagträumen und wird durch seine Nachbarin schließlich auf ein blaues Haus hinter einer Mauer direkt im Nachbargarten aufmerksam. Die ursprünglichen Bewohner sind längst ausgezogen, aber es existiert ein Bildband, über den Tarô und Nishimura sich den Haus langsam annähern, bis es zur Obsession wird.
Die Perspektive der Erzählung ist ungewöhnlich und nicht immer gleich zu entschlüsseln. Abgesehen von Tarôs Tagträumerei, die fließend ist zur Realität und deshalb nicht immer ganz von der Wirklichkeit abgegrenzt werden kann, wechselt auch die Erzählperspektive gegen Ende hin ohne Vorankündigung. So durchlebt Tarô einen großen Teil des Besuches im Frühlingsgarten nur über die Erzählung seiner Nachbarin Nishi. Auch Tarôs Schwester taucht zum Ende hin auf und beobachtet Tarô in seinem Refugium im inzwischen fast komplett leerstehenden Appartmenthaus, kommt ihm in seiner Traumwelt aber nicht zu Hilfe.
Tarô steht für den zurückgezogenen, alleinstehenden, aber nicht einsamen Single, der in den Tag hineinlebt, ohne irgendwo oder irgendwem aufzufallen. Anders als bei anderen Romanen, die den Fokus auf Vereinsamung im Großstadtleben setzen, steht Tarôs Leben in seinem abrissreifen Appartment aber vielmehr für Leben und Zyklus der Großstadt Tokyo, die sich ständig erneuert, in der aber auch inmitten der Erneuerung immer noch Dinge und Plätze überdauern, die aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Ein richtiges Ende gibt es für Tarô schließlich nicht, stattdessen verschwimmen Realität und Wirklichkeit noch weiter.
Fazit
Es ist erstaunlich, wie unscheinbar, ja fast banal Frühlingsgarten zunächst wirkt, wieviel Kraft die Geschichte nach dem Lesen aber dann doch entfaltet.Verfasst am 26. September 2018 von Friederike Krempin
Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 22. August 2019