Das Japan der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts war alles andere als ruhig. Wie im Westen radikalisierten sich auch in Japan Schüler und Studenten, gingen auf die Straße und lieferten sich Schlachten mit der Polizei – man glaubt es kaum. Nur waren es nicht allein linke, sondern vor allem rechtsgerichtete junge Leute, die da politischen Aktivismus bis hin zu Gewalttaten verbreiteten. Ein junger Schriftsteller, noch weit vom Ruhm eines Nobelpreisträgers entfernt und alles andere als das „Gewissen Japans“, als das er heute gilt, griff die Ereignisse auf und setzte sie in einer zweiteiligen Erzählung namens „Seventeen“ um.
Unter dem Titel „Tod eines politischen Jungen“ ist nun der zweite Teil des Duos, bereichert um die Magisterarbeit von Christoph Held aus dem Jahr 2012 und einen literaturwissenschaftlichen Essay von Irmela Hijiya-Kirschnereit, erstmals auf deutsch erschienen. „Seventeen“ hat einen historischen Hintergrund: Asanuma Inejiro, der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, wurde während einer Diskussionsveranstaltung mit zwei weiteren Parteiführern vor den Unterhauswahlen am 12. Oktober 1960 von einem siebzehnjährigen rechtsextremen Jugendlichen vor den laufenden Kameras des halbstaatlichen Fernsehens NHK mit einem Kurzschwert tödlich verletzt. Yamaguchi Otoya, der Attentäter und Mitglied der „Patriotischen Partei“, hatte Asanuma als „linken Verräter“ bestrafen wollen. Im Jugendgefängnis nahm er sich am 2. November 1960 das Leben, indem er sich erhängte. An die Zellenwand hatte er zuvor geschrieben: „Sieben Leben für das Land. Lang lebe seine Majestät der Kaiser“.
Wie aufgeheizt das politische Klima jener Jahre war, wird an Oe Kenzaburos Weigerung deutlich, den erstmals in einer Literaturzeitschrift erschienenen Text für die Aufnahme in einer Anthologie oder gar einer Werkausgabe freizugeben. Er fühlte sich nach der Publikation von „Seventeen“ akut gefährdet, schrieb zwar zum Glück (für seine Leserschaft) weiter, veranlasste aber, dass der Text über viele Jahrzehnte hin so gut wie nicht auffindbar war. Entweder war die Januar-Nummer 1961 der Zeitschrift „Bungakukai“ überhaupt nicht greifbar, oder die Seiten, auf denen der Text abgedruckt war, waren säuberlich herausgetrennt. Den Leserinnen und Lesern dieses Frühwerks sei empfohlen, zuerst den literarischen Text ab Seite 155 – oder in der Originalsprache ab Seite 239 – ohne die Fußnoten zu lesen, bevor sie die literaturwissenschaftlichen Analysen studieren. Anderenfalls haben sie den Kopf nicht frei für Oes Anliegen. Denn dieser Text behandelt die „Ich-Werdung“ des Protagonisten, ein Thema, das Oe bekanntlich mit wechselnder Intensität bis heute umtreibt. Wie definiert sich das Individuum im Verhältnis zur Gesellschaft? Wo findet es seinen Platz? Und wie verhält es sich zur Gesellschaft? Alles Fragen, die in diesem vor 65 Jahren geschriebenen Text thematisiert werden und heute mindestens so wichtig sind wie damals.
Fazit
Ein Muss für Oe-Fans und alle literatur/historisch Interessierten.Verfasst am 3. Juli 2016 von Thomas
Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 12. August 2019