Für die nahe Zukunft ist in Tokyo ein ambitioniertes Bauprojekt geplant: Der Tokyo Sympathy Tower soll als modernes Luxusgefängnis Straftätern eine neue Heimat bieten. Die 37-jährige Architektin Sara Makina soll den Sympathy Tower entwerfen, doch je länger sie sich mit dem Konzept des Gebäudes beschäftigt, desto mehr fehlt ihr der Zugang.
Der Tokyo Sympathy Tower steht für einen neuen Umgang mit Strafgefangenen. Laut dem Glücksforscher Masaki Seto sind Straftäter Ergebnis ihrer Umstände. Anders als diejenigen, die ein glückliches und abgesichertes Leben führen können, bleibt ihnen nur der Weg in die Kriminalität. Dafür, dass sie also keine andere Möglichkeit haben, als Straftaten zu begehen, ist ihnen Empathie und Mitleid entgegenzubringen. Ein Gefängnis muss dementsprechend gestaltet sein und gewisse Annehmlichkeiten bieten.
Auch wenn Sara Makina sich alle Mühe gibt, scheint diese Sichtweise ihr ihre Arbeit zu erschweren. Je mehr sie sich mit dem Entwurf für den Tower beschäftigt, desto mehr hat sie das Gefühl, in eine Selbstzensur abzugleiten. Es beginnt mit Wörtern, die für sie an sich schon diskriminierend wirken, beispielsweise der Begriff der sexuellen Minderheit. Sara stellt fest, dass sie zumindest auf der sicheren Seite damit ist, wenn sie statt der japanischen Wörter die englischen Lehnwörter nutzt.
Immer wieder eingestreut in den Text sind Passagen eines KI-Bots, von dem Sara sich zusätzlich beraten lässt. So rät der Bot ihr bezüglich ihrer sprachlichen Bedenken:
„Diskriminierungsfreie Kommunikation ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer glücklicheren und inklusiveren Gesellschaft, in der Empathie, Verständnis und Zusammenarbeit wertgeschätzt werden.“ (Aus: Rie Qdan, Tokyo Sympathy Tower, S. 24)
Doch später gibt es auch Kritik genau hieran, als Sara erkennt:
„Dann wurde mir klar, dass der Text wirkte, wie von einer KI generiert. Eine musterhafte Antwort, die offensichtlich die durchschnittlichen Bedürfnisse der Öffentlichkeit zusammenfasste und Kritik auf ein Minimum beschränkte.“ (Aus: Rie Qdan, Tokyo Sympathy Tower, S. 93)
Unklar bleibt bis zum Schluss, welche Haltung Rie Qdan beziehungsweise der Text zu dieser Thematik nun wirklich einnimmt. Handelt es sich bei diesem Roman um ein Buch, das die Diskussion um diskriminierungsfreie Sprache kritisiert oder doch unterstützt?
Hierauf eine klare Antwort zu erhalten wird auch dadurch erschwert, dass sich der Roman spätestens ab der Hälfte einem einfachen Zugang sperrt. Wird anfangs nur aus Saras Perspektive erzählt, werden immer mehr Passagen aus dem KI-Bot eingestreut. Zudem wechselt die Erzählperspektive unvermittelt zwischen Sara und ihrem 15 Jahre jüngeren Freund, sodass ich öfters Absätze zunächst überfliegen musste, um sie korrekt zuzuordnen.
Während etliche Themen wie Sprache, Diskriminierung, Rollenbilder und künstliche Intelligenz angeschnitten werden, bleibt auf den rund 150 Seiten kaum Platz dafür, alle Themen auch zu bearbeiten. Mit Fortschreiten des Romans fühlt es sich eher an, als würden sich alle angeschnittenen Themen und auftretenden Figuren immer mehr in einzelne Fragmente auflösen, die lauter offene Enden und ein Gefühl von Distanz zurücklassen.
Auch wenn Rie Qdan für Tokyo Sympathy Tower den renommierten Akutagawa-Preis erhalten hat und auch wenn eine Übersetzung ins Deutsche natürlich prinzipiell erfreulich ist, ist dies ä kein Roman, der sich als Unterhaltungslektüre empfehlen lässt.
Wer sich für moderne, experimentelle Literatur, KI und auch den Fakt, dass an dem Roman selbst ebenfalls KI beteiligt war, interessiert, könnte Gefallen an diesem doch insgesamt nicht leicht zugänglichen Text finden.
Fazit
Ein experimenteller Roman für alle, die sich gerne mit anspruchsvollen Texten beschäftigen.Verfasst am 26. September 2025 von Friederike Krempin