Der Titel ist ein wenig irreführend, denn Iwaya hielt sich für knapp zwei Jahre von November 1900 bis September 1902 in Berlin auf. So sind es Beobachtungen, die eigentlich schon 110 Jahre zurückliegen. Vielleicht ist der Titel ein Hinweis darauf, wie lange es manchmal dauern kann, bis aus einer Projektidee ein Produkt entsteht.
Nach dem Willen seines Vaters sollte Iwaya Arzt werden. Voraussetzung für das Medizinstudium in Japan war damals das Beherrschen der deutschen Sprache, hatte man doch beschlossen, zwei deutsche Militärärzte als Lehrer, den Chirurgen Leopold Müller und den Internisten Theodor Hoffmann, nach Japan zu holen. So lernte Iwaya also seit seinem siebten Lebensjahr Deutsch. Er interessierte sich allerdings unter dem Einfluss seiner Großmutter von Anfang an mehr für Literatur als für Medizin, zumal ihm im Anatomiekurs schlecht wurde. Sein ältester Bruder hatte ihm aus Deutschland, wo er an der Bergakademie Freiberg Bergbau studierte, ein illustriertes Märchenbuch geschickt, nicht ahnend, dass er damit das Leben seines Bruders nachhaltig prägen würde.
Ende 1892 wurde Iwaya Journalist im Feuilleton der Zeitung Kyoto hinode shinbun, drei Jahre später stieg er zum Redaktionsmitglied im Verlagshaus Hakubunkan auf. Dieser Verlag ermöglichte ihm den Deutschlandaufenthalt, indem er sein Gehalt für zwei Jahre weiterzahlte. Dafür schrieb Iwaya Artikel und Glossen für Jugendzeitschriften und die Tageszeitung in Kyoto. Diese Berichte wurden später in zwei Bänden gesammelt und von Hakubunkan veröffentlicht. So sind sie überhaupt erhalten geblieben.
In Berlin arbeitete er als Lektor am Orientalischen Seminar, wo, wie er erfahren hatte, seine Beiträge für japanische Jugendzeitschriften als Lehrmaterial für die Studenten dienten. Nach seiner Rückkehr nach Japan wandte er sich verstärkt dem Sammeln und Gestalten von Märchen zu. Freilich veröffentlichte er sie kaum schriftlich, sondern trug sie mündlich vor – und dies bis zu seinem Tod beinahe im gesamten pazifischen Raum. Reisen führten ihn bis nach Hawaii und auf die Philippinen.
Iwaya gilt als der Begründer der japanischen Kinder- und Jugendliteratur, wurde allerdings für seinen altväterischen edozeitlich geprägten Stil kritisiert. Später schrieb er in einem umgangssprachlich geprägten, leichter verständlichen Stil.
Es ist das Verdienst von Hartmut Walravens und Kuwabara Setsuko, diesen in Deutschland weitgehend in Vergessenheit geratenen Autor zumindest dem japanologisch interessierten Publikum wieder zugänglich zu machen. Bereits kurz nach Iwayas Rückkehr nach Japan waren seine Texte 1904 in Japan in deutscher Übersetzung erschienen. Der deutschen Kolonie in Japan wurde so gleichsam ein Spiegel vorgehalten.
Das Buch enthält zum überwiegenden Teil die Briefe eines Japaners aus Deutschland und die Hundert Skizzen aus Berlin (in Auszügen) in der Übersetzung von August Gramatzky sowie Reisenotizen aus dem Spreewald und der Sächsischen Schweiz, Märchen und Humoresken.
Wie stets bei diesem Herausgeber und Verlag sind die Texte überaus sorgfältig ediert, mit einem umfangreichen und häufig sehr informativen Anmerkungsapparat versehen. Kuwabara Setsuko steuert eine Biographische Skizze und Auszüge aus Iwayas Berliner Tagebuch bei. Ein Namenregister vervollständigt den wissenschaftlichen Teil.
Fazit
Ein Buch mit wissenschaftlichem Anspruch, das aber auch Nicht-Fachleuten manch überraschende Einsichten zum Berlin um 1900 vermittelt.Verfasst am 15. November 2013 von Thomas