Haiku, japanischen Kurzgedichte, sind inzwischen auch in Deutschland ein Begriff. Neben dieser traditionellen Form gibt es aber natürlich auch noch eine ganz andere Lyriklandschaft. Dieser Band versammelt Gedichte japanischer Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts, die einen neuen Weg beschreiten, in deren Gedichten japanische und westliche Tradition verschmelzen.
28 Lyrikerinnen aus 100 Jahren Lyrikgeschichte mit insgesamt weit über 100 Gedichten spiegeln in diesem Band die Diversität der japanischen Shi-Dichtung wider. Dabei handelt es sich um eine Gattung, die die starren Formen traditioneller japanischer Lyrik durchbricht. Der Impuls zu dieser Dichtung kam aus dem Westen, dass diese Gattung im Japanischen aber keineswegs bloß nachahmt, sondern eine Eigenständigkeit erreicht hat, zeigen die Gedichte, die beim ersten Lesen nicht immer sofort zugänglich sind, deren Bilder und Metaphern manchmal fremd und schwer entschlüsselbar wirken.
In diesem Sammelband werden die 28 Lyrikerinnen jeweils in einzelnen Kategorien präsentiert, die nach Generationen gruppiert sind: Aufbruch in die Moderne ab 1900, Nachkriegsgeneration ab 1950, Nachkriegsgeneration ab 1960, Nachkriegsgeneration ab 1980 und die 90er Jahre. Das letzte Kapitel, das gleichzeitig auch das aktuellste ist, stellt dabei leider nur eine Dichterin vor.
Die einzelnen Gedichte werden nicht zusammenhanglos präsentiert. Ein Nachwort zeichnet die Geschichte der japanischen Lyrik des 20. Jahrhunderts nach und ordnet die Lyrikerinnen ein. Zu jeder Lyrikerin gibt es außerdem eine Kurzbiografie, in der auch auf die Besonderheiten ihres Werkes hingewiesen wird. Mit diesen Informationen wird es einfacher, die Gedichte zu verstehen und einzuordnen.
Der Sammelband bietet so viel Stoff, so viele unterschiedliche Gedichte, dass es schwierig wird, hier für diesen Band eindeutig repräsentative Gedichte vorzustellen. Trotzdem möchte ich einige Ausschnitte vorstellen, die mich persönlich besonders angesprochen haben.
Zweiter Weltkrieg
Zu den einschneidenden Erlebnissen des 20. Jahrhunderts gehört auch in Japan der Zweite Weltkrieg. In Noriko Ibaragis (1926-2006) Lyrik zeigen sich die Spuren des Krieges deutlich. In Als ich am schönsten war beispielweise wird die verlorene Jugend der Kriegsgeneration bedauert:
stürzten krachend ganze Häuserzeilen ein
und an den unmöglichsten Stellen
kam der blanke Himmel zum Vorschein […] (110f.)
Weiblichkeit und Sexualität
Es sind nicht nur frauenspezifische Themen, über die die japanischen Lyrikerinnen dichten. Aber natürlich finden sich auch Gedichte zu diesem Themenkomplex wie beispielsweise bei Akiko Yosano(1878-1942), die in Die ersten Wehen die Situation kurz vor der Geburt beschreibt. Die letzte Strophe endet so:
Auf einmal wird die Sonne fahl,
die Welt ganz still und frostig.
Und ich bin ganz allein… (22f.)
Während die bisherigen Ausschnitte noch zugänglich waren, gibt es auch Gedichte, deren Bilder erst entschlüsselt werden wollen, so wie bei Yôko Isaka (*1949):
Deine Finger
und dein Kopf
bewegen sich getrennt.
Die Finger nach Art der Finger
hüllen sich in Schleim
Der Kopf
bedeckt sich mit Dunkelheit
geht
einen noch schmaleren Schleichweg auf und ab. (274)
Lyrik ist die Gattung, in denen die Wörter auf engstem Raum eng miteinander verflochten und mit sehr ambigen Bedeutungen aufgeladen sind. Jede Zeile ist voll von Anspielungen und kulturellem Hintergrundwissen. Eine Übertragung dieser komplexen Wortgebilde ist deshalb eine große Leistung. Der Autorin Annelotte Piper, die sich dies zur Aufgabe gemacht hat und die sich in ihren Studien selbst jahrelang mit der Shi-Dichtung befasst hat, gebührt für diese Leistung großer Respekt.
Fazit
Eine einmalige Zusammenstellung moderner Lyrik japanischer Dichterinnen, die durch umfangreiches Zusatzmaterial den Zugang zu den Gedichten erleichtert.Verfasst am 1. Dezember 2011 von Friederike Krempin
Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 13. August 2019