Ichiyô Higuchi erzählt in drei feinfühligen Erzählungen vom Leben junger japanischer Frauen, die – im noch traditionellen, aber schon im Aufbruch zur Moderne begriffenen Japan um 1900 – mit den alten Konventionen ihrer Zeit und ihrer Rolle in der Gesellschaft zu kämpfen haben.
Wie die Autorin selbst – ihr war nur eine kurze Lebensspanne von 24 Jahren vergönnt – sind die Protagonistinnen der Erzählungen alle noch sehr jung. Sie sind außerdem hübsch und haben ein tugendhaftes Gemüt, was sie dazu veranlasst, sich der Gesellschaft, den Eltern, ihren Ehemännern oder den gesellschaftlichen Konventionen zu beugen, obwohl sie damit unglücklich sind. Auch wenn die Grundthematik der drei Geschichten gleich ist, wird sie doch jeweils ganz unterschiedlich ausgestaltet:
In finsterer Nacht, やみ夜, 1894
Die Protagonistin der ersten Erzählung ist O-Ran. Ihr Vater, der zuvor unverschuldet sein gesellschaftliches Ansehen verloren hatte, hat Selbstmord begangen und sie alleine zurückgelassen. O-Ran leidet unter der gesellschaftlichen Isolation, die sie als Tochter eines Ausgeschlossenen erdulden muss. Sie lebt zurückgezogen in ihrem gro√üen Anwesen, das immer mehr verfällt. Ihre Ruhe wird eines Abends durch einen jungen Mann gestört, der vor dem Haus von einer Rikscha angefahren wird. Sie pflegt den Mann, der am untersten Rand der Gesellschaft steht, gesund. Der junge Mann verliebt sich in O-Ran und ist bereit, ihren Wunsch zu erfüllen und Rache an denen zu üben, die O-Ran in diese Lage gebracht haben.
Am letzten Tag des Jahres , 大つごもり, 1894
O-Mine ist im Gegensatz zu O-Ran ein Mädchen aus ganz einfachem Haus: sie muss für eine Herrin als Dienerin arbeiten, von der sie trotz ihrer gewissenhaften und fleißigen Arbeit schlecht behandelt wird. Als O-Mine sich für ihren kranken Onkel Geld borgen will, gibt ihr die Herrin trotz Versprechen das dringend benötigt Geld nicht. O-Mine beschließt deshalb zu stehlen, auch wenn es sie ihre Anstellung kosten wird.
Die Nacht der Herbstmondfeier, 十三夜, 1895
Rein gesellschaftlich hat O-Seki alles richtig gemacht: Als armes Mädchen von niederem Stand hat sie es geschafft, einen angesehenen Beamten zu heiraten. Doch dieser terrorisiert sie nur. In der Nacht der Herbstmondfeier läuft O-Seki deshalb fort von ihm und sucht bei ihren Eltern Zuflucht. Doch die wollen ihr ihre Scheidungspläne wieder ausreden, denn damit würde O-Seki nicht nur ihren Wohlstand und ihren Sohn verlieren, sondern auch den Job ihres Bruders riskieren.
Alle drei Erzählungen sind fesselnd erzählt und sehr athmosphärisch gestaltet. So mutet zum Beispiel O-Rans verfallenes Anwesen mit seinen knorrigen Kiefern, dem verwilderten Garten und dem Teich, der so tief ist, dass noch niemand seinen Grund erkundet hat, wie eine Allegorie an. Es ist die Allegorie auf eine Gesellschaft und ein Wertesystem, dass langsam im Verfallen ist. Noch ist es aber lebendig, und deshalb enden Higuchis Erzählungen alle in der traurigen Wirklichkeit: die Frauen müssen sich fügen. Durch das offene Ende jeder Erzählung bleibt aber ein kleines Schlupfloch für die Frauen, ein Hoffnungsschimmer auf einen anderen Handlungsspielraum in der Gesellschaft.
Fazit
Drei wundervoll-melancholische Erzählungen, die die gesellschaftlichen Spannungen der Frauenrolle im Japan zum Ende des 19. Jahrhunderts aufzeigen.Verfasst am 26. Juni 2010 von Friederike Krempin
Tags: Armut, Frauen in Japan, Ichiyo Higuchi, soziale Ungleichheit, Vergänglichkeit