Um circa 1000 führte eine Hofdame, die unter dem Rufnamen Sei Shonagon bekannt ist, eine Art Tagebuch, in dem sie ihre Gedanken und Beobachtungen über den kaiserlichen Hof der Heian-Zeit festhielt. Diese Aufzeichnungen haben bis heute überdauert und zählen wegen ihrer inhaltlichen und stilistischen Qualität inzwischen zu den Klassikern japanischer Literatur.
Während in Deutschland zur Lebzeit Sei Shonagons das literarische Leben sehr beschränkt war – die einzigen Schreiber waren Mönche, die biblische Texte in deutscher Nationalsprache verfasst haben – gab es am kaiserlichen japanischen Hof in Kyôtô ein reiches kulturelles Leben. Im Gegensatz zur übrigen japanischen Bevölkerung, die recht primitiv lebte, waren am Kaiserhof Ästhetik, Bildung, Kunst und Literatur zentrale Werte, um die sich fast das gesamte höfische Leben drehte: die Adeligen verbrachten ihre Zeit mit Spielen, literarischen Wettstreifen, schlichen Nachts zu ihrer Geliebten und schliefen am Tag oder verfassten Liebesgedichte an die Geliebte der letzten Nacht.
Dieses für damalige Zeit recht dekadente Leben am Hof beschreibt Sei Shonagon in ihrem Kopfkissenbuch ziemlich genau. Ihr Tagebuch ist allerdings keine zusammenhängende Erzählung mit Einträgen, die sich aufeinander beziehen, sondern mehr eine Sammlung aus kleinen Erzählungen vom Hof, Naturbeschreibungen und Assoziationsketten zu Dingen, die ihr gefallen oder nicht gefallen.
Sei Shonagon drückt sich dabei klar und präzise aus: oft besteht ein Eintrag nur aus drei bis vier Sätzen, in denen sie zum Beispiel selbstverständliche Dinge wie einen Herbstgarten am Morgen nach einer Regennacht beschreibt – dies aber mit einer Genauigkeit, sodass die Schönheit dieses Moment lebendig wird.
Spannend für Japaninteressierte sind aber vor allem die kulturellen Informationen über das Leben am Hofe, die sich in den Einträgen verbergen: Sei Shonagon erzählt zum Beispiel von einem Ausflug der Hofdamen in die Natur, bei dem es den Damen eigentlich nur darum geht, ein schönes Gedicht zu schreiben. Oder sie beschreibt, wie sie einen Mann dabei beobachtet, wie er am Morgen seine Geliebte verlässt, mit der er eine Nacht zugebracht hat.
Zusammengenommen verdichten sich die einzelnen Beobachtungen zu einem reichhaltigen Bild über das höfische Leben der Heian-Zeit, das dem Leser zumindest in einem Aspekt nicht fremd sein wird: Die Menschen am Hof sind trotz ihrer Etikette auch nur einfache Menschen, die mit Arroganz, Eitelkeit, verzogenen Kindern oder einem untreuen Liebhaber zu kämpfen haben.
Fazit
Ein beeindruckendes Zeugnis japanisch-höfischer Kultur der Heian-Zeit.Verfasst am 12. Juni 2010 von Friederike Krempin
Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert am 22. August 2019