Baumschatten ist das zweite Buch von Saiichi Maruya, das ins Deutsche übersetzt wurde. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger, der Journalistin, in dem eine Journalistin in ihren Artikeln ihre Umwelt widerspiegelt, geht es in Baumschatten ausschließlich um die gedankliche Innenwelt des Autors.
In einer Art Einleitung beginnt Maruya essayhaft-reflektierend von seiner Vorliebe für Baumschatten, die auf eine Wand fallen, zu erzählen. Was ihn an den Baumschatten so fasziniert, kann er klar formulieren: in ihrer schematisch reduzierten Wiedergabe des Baumes sind die Schatten für ihn wie ein Kunstwerk, das die wahre Essenz des Baumes ausdrückt. Warum er allerdings solch eine Vorliebe für Baumschatten hat, kann er sich nicht erklären. Deshalb beginnt er in seiner Erzählung eine neue Erzählung, die die Gründe für seine Vorliebe aufdecken soll.
In der dritten Person erzählt Maruya nun die Geschichte des Schriftstellers Furuya, fr üden die Baumschatten ebenfalls eine besondere Bedeutung haben. Im Gegensatz zum Autor selbst ist Furuya diese Tatsache aber nicht bewusst, sondern sie spiegelt sich versteckt in seinem literarischen Werk wider. Gerade weil Furuya nicht wie der Autor selbst auf der Suche nach dem Grund für seine Liebe zu den Baumschatten ist, scheint die Erzählung auf einmal überhaupt nicht mehr das Ziel zu haben, diese Gründe aufzudecken, sondern verliert sich in Zusammenfassungen von Furuyas Werken und reflektierenden Passagen.
Erst gegen Ende bekommt die für den Leser nicht erkennbar strukturierte Erzählung noch eine richtige Handlung und deckt überraschend die Gründe für Furuyas Vorliebe von Baumschatten auf, die in seiner Kindheit liegen.
Die Erklärung für die Vorliebe für Baumschatten bleibt aber nur eine Hypothetische, die nicht bestätigt werden kann. Auch ist nicht erkennbar, ob Furuyas Psyche sich auf den Autor selbst übertragen lässt – durch die Erzählung in der Erzählung entzieht Maruya dem Leser sein Ich. Es bleibt also dem Leser überlassen, eine Verbindung zwischen Furuya und dem Autor selbst herzustellen – eine Ansicht, die der Autor Furuya in einer reflektierenden Passage in den Mund legt: der Autor offenbare in seinen Romanen sein unterbewusstes Ich und füge es in einen Erzählzusammenhang ein. Der Leser müsse diesen Zusammenhang interpretieren.
Baumschatten ist also keine leichte Unterhaltungslektüre, sondern philosophisch und tiefenanalytisch. Die vielen Erzählebenen – analytisch, reflektierend, dokumentarisch – die Maruya schafft, bilden ein komplexes Netz von Gedankengängen, in denen sich der Leser beim ersten Lesen leicht verlieren kann. Beim mehrmaligen Lesen aber erschließt sich das Buch immer mehr, seine unkonventionelle Form kann dann genossen werden.
Baumschatten bietet eine ganz besondere Mischung: Die Erzählung enthält typische japanische Motive wie Ästhetik und die Vergänglichkeit des Schönen. Gleichzeitig ist sie aber auch durch ihren komplexen Aufbau und die psychische Selbstanalyse des Autors ein durch und durch postmoderner Roman, der sich durch seine literarische Qualität von anderen Romanen seiner Zeit positiv absetzt.
Fazit
Der Versuch der Aufdeckung des eigenen Ichs - ein Streifzug durch vielschichtige, labyrinthische Gedankengänge.Verfasst am 4. Juni 2010 von Friederike Krempin
Tags: Identität, Maruya Saiichi