Die Geschichte des Prinzen Genji gilt als der erste Roman der Welt. Und obwohl dieser Roman vor über 1.000 Jahren handschriftlich verfasst wurde, ist sein Umfang – im Deutschen sind es rund 1.800 Seiten – beachtlich. Aber ist dieser Roman abgesehen von seiner kulturellen Bedeutung auch für Leser außerhalb wissenschaftlicher Fachkreise noch interessant?
Inhalt
Der Roman umfasst die Lebensgeschichte von Genji und einer weiteren Generation. Genji wird als Kind des Kaisers am Hof vom Heian, dem heutigen Kyôtô, geboren. Seine Mutter ist aufgrund ihrer Schönheit und ihres besonderen Wesens die Favoritin des Kaisers. Genji erbt ihre Schönheit und ist deshalb am Hof von Anfang an sehr beliebt. Auch die Frauen liegen ihm zu Füßen und er lässt sich auf viele Abenteuer ein – nur diejenige, die er wirklich will, bekommt er nicht. Die ersten paar hundert Seiten sind deshalb vor allem gefüllt mit Emotionen wie diesen:
Genji selbst weilte mit seinen Gedanken ständig bei ihr, und er fühlte dabei Trauer und ungeduldige Sehnsucht. Voll Mitleid dachte er an ihr Leid, und es bekümmerte ihn tief, daß er sie nicht einmal trösten dürfte. (73f.)
Sie erschien Genji zwar ein wenig leichtsinnig, aber dies bekümmerte ihn kaum, beglückte ihn doch die Möglichkeit, sich zu verlieben, immer wieder aufs neue. (80)
Die Frauen, die ich liebe, haben zwar weder in ihrem Wesen noch in ihrer Liebe einen Makel, und trotzdem gibt es keine, von der ich sagen könnte: die und keine andere soll es sein! (277)
Seifenoper aus alten Zeiten
Genjis Abenteuer spielen sich in einem „Elfenbeinturm“ ab: Materielle Sorgen gibt es für ihn nicht. Szenerie ist vor allem der kaiserliche Hof, einfache Leute außerhalb dieser Sphäre kommen so gut wie gar nicht vor. Genjis Sorgen sind – neben der Liebe – vor allem, ob jemand hübsche Gedichte schreiben und musizieren kann. Die Liebesbekundungen und Gefühlsausbrüche der Protagonisten lassen den Roman fast wie eine frühzeitliche Form der Seifenoper erscheinen.
Auch wenn sexuelle Handlungen nicht geschildert werden, harmlos ist Die Geschichte des Prinzen Genji keinesfalls. Hierzu zwei kurze Beispiele:
Genji will sich heimlich mit einer Frau treffen und schleicht sich heimlich in ihr Schlafgemach. Die Frau kann rechtzeitig flüchten, eine weitere Frau, die mit ihr zusammen im Zimmer liegt, bekommt den nächtlichen Besuch aber erst mit, als Genji sich schon über sie beugt. Weil seine eigentliche Favoritin verschwunden ist, beschließt Genji kurzerhand, sich mit der unbekannten Frau zu vergnügen.
Ein wenig seltsam ist das zweite Beispiel: Genji entdeckt ein junges Mädchen, das vermutlich jünger als 10 Jahre ist, und beschließt, es zu sich zu nehmen. Dazu lässt er es entführen (!) und versteckt es in seinem Haus. Er erzieht das Mädchen nach seinen Vorstellungen und nimmt es zur Frau, als es alt genug ist. Sympatisch macht Genji, der auch sonst recht rücksichtslos gegenüber den Frauen vorgeht, dies nicht gerade.
Die Geschichte von Genji – eine Liebesgeschichte
Eine Geschichte ist dann spannend, wenn sie irgendwie berührt. Bei einem so alten Roman ist das schwierig, denn Lebensgewohnheiten haben sich geändert. Die Bezeichnung der verschiedenen Personen und ihrer Hofränge, die ausführliche Beschreibung ihrer Kleidung, die für uns heute nur schwer vorstellbar ist, machen die Lektüre nicht gerade spannend. Und doch ist Die Geschichte des Prinzen Genji in ihren Grundzügen universell: Es geht um Liebe, vor allem auch um unerwiderte Liebe, um verhinderte Liebe – kurzum: um große Gefühle. Weil die Geschichte von Genji diese Universalität besitzt, ist sie bis heute spannend. Spannend ist nicht nur, mit Genji und den anderen Personen mitzufiebern, sondern eben auch Allgemeines herauszulesen, in dem man sich selbst wiederfinden kann. Und so lohnt es sich auf jeden Fall, in Die Geschichte des Prinzen Genji einzutauchen.
Mit dieser Ausgabe hat Manesse die Übersetzung von Oscar Benl aus dem Jahr 1966 wieder aufgelegt.
Zur Buchgestaltung
Die Geschichte des Prinzen Genji ist ein Klassiker, der sich auch schön in einer Buchsammlung macht. Passend dazu hat Manesse diese Ausgabe für Sammler gestaltet: Die beiden Bände sind jeweils mit einem fein glänzenden Stoffbezug bezogen, mit Lesebändchen ausgestattet und das Papier ist das von Manesse gewöhnte, dünne, nach eigener Aussage alterungsbeständige Papier. Geschützt werden die Bücher von einem Schuber, der Auszüge aus einer Abschrift des Genji monogatari enthält.
Fazit
Ein bedeutendes Stück Weltliteratur - und zudem auch heute noch spannend zu lesen.Verfasst am 12. Oktober 2014 von Friederike Krempin