1988 schrieb eine japanische Autorin ein Kinderbuch darüber, wie ein japanisches Kind in Deutschland den Atomunfall in Tschernobyl erlebte. Ihr Buch fand lange nur wenig Beachtung, nach 3/11 erhielt es aber traurigerweise in Japan eine neue Relevanz.
Shôko Nakazawa erzählt die Geschichte vom Sechstklässle Tôru, der mit seiner Familie, die zum Arbeiten von Japan nach Deutschland gekommen ist, in Köln lebt. Die Erzählperspektive vom Tôru ist also stets eine japanische, das heißt, er erklärt den japanischen Lesern die Besonderheiten von Deutschland wie etwas, dass die Grundschule statt sechs nur vier Jahre dauert und dass in Deutschland auch der Samstag ein freier Tag ist.
Als bekannt wird, dass sich in Tschernobyl ein Unfall ereignet hat, ist Tôru mit seinem Vater allein zu Hause. Die Mutter macht eine Reise durch Wien und Ungarn, bricht diese aber schnell ab und kommt zurück. Bis dahin aber erlebt Tôru die Katastrophe vor allem vor dem Fernseher: Wie auch 25 Jahre später Fukushima ist Tschernobyl – bis auf erhöhte radioaktive Werte – nicht spürbar, sondern nur medial vermittelt.
Auch in der Schule wird schließlich unter den Schülern und mit den Lehrern diskutiert. Vor allem wird diskutiert, ob Atomkraft tatsächlich nötig ist. Nakazawa präsentiert beide Perspektiven und lässt so in Form eines Mädchens namens Brigitte auch die Pro-Atomkraftfraktion sprechen: Wir brauchen und wollen den Strom und haben jahrelang mit Atomkraft gelebt, müssen wir dann nicht auch die Konsequenzen mittragen?
Brigitte hat diese andere Sicht der Dinge, da ihr Vater selbst in einem Atomkraftwerk arbeitet. Ihre Eltern trennen sich schließlich und sie zieht mit ihrem Vater zusammen in ein Dorf, in dessen Nähe der Vater nun in einem anderen Atomkraftwerk arbeitet. Dies wirkt ein bisschen theatralisch und auch die Verknüpfung von Vater und Atomkraftwerk sind vielleicht ein wenig weit hergeholt, wenn man aber die Fälle an deutsch-japanischen und wohl inzwischen auch Paare in Fukushima betrachtet, die sich aufgrund unterschiedlicher Einstellungen trennen, ist dieser Fall an sich gar nicht so unwahrscheinlich.
Nakazawa schildert alles so, wie es ein Kind miterlebt haben könnte: Vom Bericht in den Medien, vom anschließenden Verbot draußen zu spielen und von der Sorge der Eltern, welches Gemüse sie noch kaufen können. Auch hier wieder eine Ironie der Geschichte: Tôrus Mutter kauft aus Sorge über die verseuchten Lebensmittel zunächst nur noch Lebensmittel aus Japan.
Was Nakazawa aber nicht schildert, sind Hintergründe. Sowohl die Vorgänge in Tschernobyl als auch generell die Fakten rund um Atomkraft werden nur angerissen. Letztlich geht es allein um die unmittelbaren Erlebnisse und weniger um die Folgen. Bedenkt man aber, dass das Buch 1988 erschien, so wird klar, dass damals die Folgen noch nicht so sichtbar waren wie heute – und dass auch damals über Tschernobyl noch nicht so viel öffentlich bekannt war.
Etwas irritierend sind die Dinge, die um die Geschichte herum passieren. Nicht nur Brigittes Vater wirkt ein wenig hineinkonstruiert, Tôrus Mutter wird im März schwanger und so besteht die Befürchtung, dass sie auf ihrer Reise vielleicht zu viel Radioaktivität abbekommen hat. Das Buch aber endet kindgerecht und mit einem Happy End – der Geburt des Babys – im Dezember 1986. Auch wenn dieses Ende vielleicht etwas kitschig ist, Nakazawa hat unbewusst schon wieder eine Parallele zu den Ereignissen in Fukushima gezogen: Denn auch in Deutschland neigen die Menschen schnell zum Vergessen und so ist das Thema zur Geburt des Babys fast von der Bildfläche verschwunden.